Das kleine, blaue Wesen hat seinen linken Arm gehoben. Er muss danach gleich zur Seite gesunken sein, denn jetzt liegt er über dem Kopf wie ein erschlaffter Pflanzenstengel. Es sieht so aus, als würde dieses Ärmchen nun für immer so liegen bleiben, ein Körperteil, dem seine eigentliche Funktion abhandengekommen ist und das dafür eine neue gewonnen hat. Das blaue Wesen wahrt allemal seine Würde.Das Ärmchen bildet einen Halbkreis, der sich wie ein Nimbus um den Kopf legt. Wie alle Plastiken von Susanne Ring bannt auch diese unmittelbar den Blick des Betrachters. Die Bildhauerin formt aus Ton zarte Wesen, die uns im gleichen Augenblick anziehen und befremden. Die Figuren der Künstlerin wirken deformiert und würdevoll zugleich, sie faszinieren uns, weil sie in uns disparate Empfindungen auslösen, mit denen wir deshalb nie an ein Ende kommen, weil sie sich nicht in einer Erklärung auflösen lassen. Der Anblick der kleinen Figur mit dem erschlafften Arm mag befremdlich oder kurios wirken. Nach diesem ersten Affekt aber wachsen Sympathie und Mitgefühl.

Susanne Rings Plastiken sind Körper im Raum. Das klingt banal, das klingt nach der verlegenen, nach den vielen Innovations- und Veränderungs-schritten der Skulptur in der Moderne übrig-gebliebenen Minimaldefinition dieser Kunstgattung. In Wirklichkeit ist mit dieser Aussage das Thema von Susanne Rings Kunst grundlegend angesprochen. Denn ihre Plastiken handeln von Körper und Körperlichkeit und damit von einem Thema, das in der zeitgenössischen künstlerischen Praxis und theoretischen Reflexion den Knotenpunkt vieler Aktivitäten und Überlegungen bildet. Susanne Ring spricht das Thema des Körpers in dreifacher Hinsicht an: erstens als Frage nach der Machart ihrer Figuren und der sich damit artikulierenden Auffassung von Bildhauerei und Plastik, zweitens als Kommentar zum Verständnis von Körper und Körperlichkeit in der Gegenwartsgesellschaft und drittens als Statement im Rahmen einer Begegnung des Betrachters mit ihrer Kunst.

Diese drei Aspekte sind natürlich nur als Teile eines einzigen großen Komplexes richtig verstanden. Die Frage nach dem Körper richtet sich auf das Menschen- und Körperbild der Bildhauerei. Zugleich steht das Verhältnis von Objekt und Raum und der Verortung des Kunstrezipienten im gleichen Augenblick mit in Frage. Susanne Ring baut ihre Figuren aus Ton auf und brennt sie zu Keramiken.

Die Künstlerin formt keine massiven Körper, sondern hohle Gebilde. Jeder ihrer Plastiken besitzt daher ein doppeltes Gesicht – das der menschlichen Figur und das des Gefäßes. Die Körper, die auf diese Weise entstehen, stellen keine Fülle dar, sie markieren eine Grenze.

 

Ring geht es nicht um Gewicht und Schwere, sondern um Leichtigkeit und Fragilität. Die künstlerische Prozedur definiert relevante Vorentscheidungen zur Auffassung des Körpers in dieser Kunst. Körper werden nicht als Volumina ins Spiel gebracht, sondern als Komposita. Die einzelnen Figuren besitzen meist nicht nur, wie viele Gefäße, einen Deckel, sie sind auch aus heterogenen Elementen zusammengesetzt. Jede von Susanne Rings Plastiken verwirklicht sich als fragiler Körper, dessen Gestalt eine Grenze zwischen Innen und Außen markiert und einen hohlen Raum birgt.

Körper sind hier Container und zugleich gebaute Architekturen, die sich aus Kuben und Stützen wie aus Basiselementen zusammensetzen. Der Körper ist kein integrales Ganzes, sondern ein Konstrukt, das sich auch als solches zu erkennen gibt. Jede dieser Plastiken sieht wie ein Körper aus, weist Rumpf und Kopf, Arme und Beine auf. Diese Gebilde entsprechen dem, was wir unter dem Körper, dem menschlichen Körper zumal verstehen – zumindest in den grundlegenden Zügen.

Figuren wie „Container Love“ oder „Sie“ verblüffen und befremden uns zugleich aber auch mit

ihrer jeweiligen Gestalt. Susanne Rings Figuren fordern heraus als hybride Gebilde, deren jeweilige Individualität sich nicht auf Muster beziehen lässt. Kein Körper ist hier wie der andere, keiner dupliziert ein Schema. Jeder dieser Körper ist er selbst und nur er selbst – in einem geradezu emphatischen Sinn.

Diese Beobachtung korreliert mit dem Arbeitsprozess der Künstlerin und dessen unvermeidlichen Eigenheiten. Der Herstellungsprozess jeder Keramik schließt Momente der Unwägbarkeit mit ein. Brennvorgang und Glasuren lassen sich aufgrund von praktischen Erfahrungswerten zuverlässig handhaben. Wirklich steuerbar sind sie hingegen nie. Die Künstlerin rechnet bei ihrer Arbeit mit dem Zutun des Materials und seinen unkalkulierbaren Reaktionen. Die Plastiken, die dabei entstehen, steuern sich in ihrer Genese ein gutes Stück weit selbst. Die Künstlerin formt Körper, die sie projektieren kann, in ihrer endgültigen Gestalt dann aber akzeptieren muss. Sie haben sich ihrer Planung ein gutes Stück weit entzogen, sind am Ende, was sie sind und so, wie sie niemand imaginieren konnte.

Die Körper, die auf diese Weise entstehen, sind in ihrer jeweiligen Eigenart nicht nur hinzunehmen, sie müssen als völlig neuartige Wesen begriffen werden, die durch den künstlerischen Arbeitsprozess eine von allen Erwartungen und Wahrscheinlichkeiten freie Wirklichkeit gewonnen haben.

Die Künstlerin erscheint in dieser Hinsicht nicht allein als Urheberin ihrer Plastiken, sondern auch als Assistentin von Körpern, die im während des künstlerischen Arbeitsprozesses im Begriff sind, zu ihrer eigentlichen Gestalt zu finden.
In früheren Werkphasen unterstrich Susanne Ring diesen Aspekt ihres Werkes noch dadurch, dass sie ihre Plastiken als Materialmix anlegte, der der Keramik andere Materialien wie Holz oder Federn hinzufügte. Diese Eigenart ihrer Bildhauerei findet sich weiter, ist aber zugunsten einer sich auf das Material der Keramik beschränkenden Arbeit zurückgenommen worden. Die Figuren beziehen jetzt ihre Wirkung allein aus der Keramik und ihren Spielräumen. „Der Körper ist das erste und natürlichste Instrument des Menschen“. Dieses Diktum des Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss wirkt heute wie eine Kontrastfolie zu jenen Körpervorstellungen, die sich in den Plastiken von Susanne Ring artikulieren.

 

Der Körper besitzt weiter eine zentrale Relevanz, er erscheint nun aber nicht mehr als Instrument, über das sich verfügen ließe, sondern als Gefäß, ja Gefängnis, dessen Existenz hinzunehmen ist. Die Körper der Susanne Ring sind nicht einfach natürlich, sie erscheinen vielmehr als kreatürlich, weil sie, weit über jede vermeintliche Normalität des Natürlichen hinausgehend, ihr eigenes, nicht kalkulierbares Wachstum haben. In den Plastiken von Susanne Ring sehen wir Wesen, die bisweilen wirken, als seien sie von sich selbst überrascht und hätten nun Mühe, das eigene so- und nicht anderssein hinzunehmen. Diesen Körpern sind genauso viele Möglichkeiten wie Defizite eingeschrieben. Sie erscheinen unmittelbar gegeben, stehen aber nicht einfach zur Verfügung.

Ihre offensichtliche Fragilität und Verletzlichkeit versperrt jeden Weg zu einer vermeintlich einfachen Identität dieser Wesen mit ihren Körpern.

Wesen wie jene aus der Werkgruppe „Schlangen beschwören“ haben Körper, die sich nicht einfach bemeistern, und entsprechend auch nicht ausbeuten oder optimieren lassen. Die Geschichte des Körpers stellt sich in der abendländischen Tradition als Abfolge von Versuchen dar, den Körper zu domestizieren, ihn zu leugnen oder mindestens als Produktionsinstrument zuzurichten. Körper werden in dieser Tradition nicht akzeptiert, sie werden instrumentalisiert. Physis produziert Störfaktoren. Der von dem Soziologen Norbert Elias in seinem gleichnamigen Klassiker beschriebene „Prozess der Zivilisation“ besteht entsprechend darin, mit der Kontrolle von Affekten und ihren Unwillkürlichkeiten auch den Körper in seinen Bewegungen und Regungen, in seinen Bedürfnissen und Appellen zu regulieren. Das Bild des Körpers fächert sich entsprechend auf.

Er erscheint als Haus wie als Fremdkörper, als Instrument wie als Vagabund. Körper zeichnen sich dadurch aus, dass sie ebenso vital wie sterblich sind.
Sie müssen eigenen Körperregimen unterworfen werden, damit sie zu jenen Sinnkonzepten und Lebensvollzügen passen, die sich der Mensch entwirft. Den Körper gibt es in dieser Hinsicht des Zivilisatorischen niemals nur als vermeintlich natürliche Gegebenheit, sondern immer nur als „Einschreibefläche und Symbol gesellschaftlicher Strukturen“. Er stellt sich als soziales Produkt im Medium des Physischen dar. Mit dem Körper etwas machen oder ihn zu etwas ganz anderem und damit zu sich selbst befreien – diese Alternative stellt die Bedingungen,
unter denen derzeit mit dem Körper umgegangen wird.

 

Susanne Rings Körperplastiken sind weit entfernt von einer Welt der sozialen Kontrolle oder der Zurichtungen der immer ungenügenden Physis durch Interventionen von Body Shaping bis plastischer Chirurgie. Ihre Kunst thematisiert eine Revolte des Körperlichen gegen Kontrolle und Normierung. Ihre Kunst stellt Körper nicht dar oder aus, ihre Kunst konfrontiert mit Körpern in ihrer ganzen befremdlichen Eigengesetzlichkeit. Diese Körper scheinen Gebrechlichen wie Helden gleichermaßen zu gehören. Sie scheinen besondere Möglichkeiten zu bergen, gleichzeitig aber auch vom Signum des Mangels gezeichnet zu sein. Körper vermögen vieles. Sie können aber nicht über sich hinaus. Vielleicht liegt gerade in dieser Einsicht, ja in diesem Gefühl der Schlüssel dazu, den eigenen Körper als grenzenlos und damit als „totale Freiheit“ zu erfahren.
Mit diesem grundsätzlichen Anliegen findet das Werk von Susanne Ring auch seinen Platz in der zeitgenössischen Kunst. Die Plastiken der Künstlerin erinnern an verwandte künstlerische Projekte, die gleichfalls den menschlichen Körper in einer neuen Weise als eigene, von allen Erwartungen und Zurichtungen freie Größe thematisieren. Zu diesen Werken gehören Positionen der Bildhauerei ebenso wie der Malerei.

Susanne Rings Plastiken und Bilder erinnern an die Figuren und Zeichnungen von Thomas Schütte mit ihren gleichfalls sehr eigenen und befremdlichen Körpern. Verbindungen gibt es darüber hinaus zu den Objekten von Louise Bourgeois wie zu den Gemälden von Maria Lassnig und Miriam Cahn.

Alle diese Positionen haben dazu beigetragen, dass der Körper mit und durch die Kunst in einer neuen Weise gesehen werden kann. Körper befinden sich auf der Grenze zwischen Verfallenheit und neuer Freiheit. In der Kunst avancieren sie zu Medien von Erfahrungen, die nicht begrifflich vor-geformt sind oder von vorn herein auf bestimmte Erwartungen abgestellt werden.
Die Körper der Kunst sind Zeichen einer Freiheit, zu der sich der Mensch emanzipieren sollte, und im gleichen Augenblick Signaturen einer Sterblichkeit, die in der Epoche von Turbomedizin und Körperoptimierung allzu oft verdrängt oder in gesellschaftliche Seitenbereiche einer professionellen Beschäftigung mit Krankheit und Tod abgedrängt wird.

Susanne Rings Plastiken erzählen nicht einfach nur von Körpern, sie sind selbst Körper, die mit ihrer immensen Präsenz Räume nachhaltig besetzen. Diese Präsenz ist disparat, weil sie von Körpern ausgeht, die fragil und widerständig zugleich wirken. Rings Plastiken wirken in den Raum hinein.

Ihre Körper schließen sich nicht einfach ab, sondern sind immer auch ein gutes Stück außer sich, erkunden und besetzen ihre Umwelt. Aus der Präsenz von Körpern ergibt sich ein Anspruch darauf, wahrgenommen und gehört zu werden. Körper besetzen mit ihren Versammlungen öffentliche Räume und artikulieren so eine politische Botschaft. Diese Deutung des Körpers betont seine politische Präsenz im öffentlichen Raum, die ihre Kraft aus seiner jeweiligen Individualität bezieht.

Susanne Rings Körperplastiken rufen dieses Verständnis des Körpers auf, weil sie den Betrachter mit ihrer individuellen Gestalt konfrontieren und dadurch Respekt und Nähe einfordern. Betrachter nähern sich diesen Werken unwillkürlich mit großer Vorsicht, weil sie deren kraftvolle Aura spüren. Diese Plastiken wollen nicht nur betrachtet und erspürt sein, sie scheinen selbst ihrerseits auf ihre Betrachter zurückzuschauen. Wer sich den Plastiken von Susanne Ring nähert, wird gewahr, dass er am Ende selbst so ist, wie diese Figuren aus Keramik: ein gesonderter Körper im Raum, einsam und skurril, zugleich mit anderen verbunden und lebendig, eingeschränkt in seiner Begrenzung auf die eigene Leiblichkeit und doch gerade durch sie dazu befähigt, auf die eigene Welt und andere Körper in einzigartiger Weise zu wirken.

 

„Tired Horse on the seaside with Palm Tree“, 2016,  „o.T.“ ca. 53 cm, Keramik glasiert, 2016, „Pferde“,  2011  

Ausstellungsansicht

Container Love, Fontana, Amsterdam 2017

„Sie“,

zweiteilige Keramik, engobiert, ca. 60 cm hoch, 2016

„Schlangen beschwören“, Axel Obiger, Berlin, 2014

„Madame Butterfly“
Keramik, 5-teilig, 102 cm, 2020

Ausstellungsansicht Circus 1, Putbus, 2020

Fatima the Wrestler, Keramik, 2019

Ausstellungsansicht Circus 1, Putbus, 2020