Die Dynamik der Stille – Keramiken von Susanne Ring

 

Keramik blickt auf eine jahrtausendealte Geschichte zurück und gilt als das älteste Handwerk. Die zunächst als Symbolträger für kultische Zwecke und als profaner Gebrauchsgegenstand benutzte Irdenware des Neolithikums entwickelte sich im Laufe der Zeit, von China, Japan, Korea über Kleinasien bis Mittel-und Südamerika, zu einer weltweiten Keramik-Kultur mit regionaltypischen Ausprägungen. Im Zeitalter der Industrialisierung und der damit einsetzenden Massenproduktion erfuhr das Keramik-Handwerk eine grundlegende Veränderung. Im Rahmen dieses nun eher kunstgewerblichen Betriebes spielten das Künstlerische und somit der individuelle Stil kaum noch eine Rolle. Sie verloren an Bedeutung. Die Jahrhundertwende brachte erneut einen Wandel, als mit Einsetzen der Reformbewegung in Europa, allen voran dem Jugendstil und den damit ins Leben gerufenen Atelier-töpferwerkstätten und der späteren Bauhaus-Gründung, das Handwerklich-künstlerische der Keramikherstellung zum Qualitätsmerkmal erhoben wurde.
Handelte es sich bei dieser Keramik fast ausschließlich um nach ästhetisch-praktischen Kriterien hergestellte Gebrauchskeramik, so entwickelte sich unter dem Einfluß experimentierfreudiger und grenzüberschreitender Künstler wie Max Laeuger, Joan Miró oder Pablo Picasso, der das wohl umfangreichste keramische Werk hinter-ließ, eine freie Keramikkunst, deren individuelle Ausdrucksformen von der Gefäß-über die Bau-keramik, von der Bildplastik bis hin zur figürlichen Plastik reichen.
Diese innovativen Weg-beschreitungen setzten kreative Impulse frei, die bis heute zu einem grundlegenden Wandel in der Auffassung von Keramik führten. Als Zeichen des Aufbruchs in eine neue Kunstära in den 1960er und 1970er Jahren verstanden beispielsweise auch Künstler der amerikanischen Pop Art wie Robert Rauschenberg oder Roy Lichtenstein ihren zeitweiligen Exkurs in den Bereich der Keramik. Die heute anzutreffende Vielfalt gestalterischer Ausdrucksmöglichkeiten deutet auf ein neues Selbst-verständnis des Keramikers. Der Künstler unserer Tage denkt nicht mehr zwangsläufig in Kategorien. Sein Umgang mit dem Werkstoff Ton ist spielerischer, spontaner, zweckfreier und experimenteller geworden. Beschäftigt man sich eingehender mit den Arbeiten von Susanne Ring, so wird man schnell feststellen müssen, dass auch hier eine eindeutige Gattungszuordnung nicht mehr möglich ist.


 

Susanne Ring gehört zu jener experimentierfreudigen und grenzüberschreitenden Künstler-generation, die in Auseinandersetzung mit keramischen oder auch anderen formbaren Materialien in Nachbargebiete wie die Malerei und die Rauminstallation vordringen oder mediale Disziplinen wie die Fotografie oder die Videokunst in ihre Kunst integrieren (Smutnas 2007, Kat. S.59). Der Schwer-punkt ihrer Arbeiten liegt dabei auf den Figuren. Tatsächlich mißachtet Susanne Ring beim figurativen Gestalten den festgelegten Material-und Gattungsbereich. Ihre plastischen Formulie-rungsmöglichkeiten sind vielfältig, wenn sie, mit Materialkombinationen experimentierend, aus Ton, Keramik, Holz, Porzellan, Stein, Glas, Salzteig, Papier und zuweilen auch unter Verwendung von Textilien ausdrucksstarke Köpfe auf amorphen Körpern entstehen lässt.


Studiert hat die 1966 in Mainz geborene Susanne Ring an der Universität der Künste in Berlin, wo sich heute auch ihr Atelier befindet. Dort, untergebracht im geschichtslastigen Gebäudetrakt einer ehemaligen Kaserne, gibt sie keramischer Masse Gestalt, formt sie anthropomorphe, zoomorphe und biomorphe Figuren aus Ton und unterschiedlichen Materialkombinationen (Kat. S. 53). Im Laufe der Jahre ist dabei ein Universum kleiner und großer, liegender und stehender Körper mit individuellen Merkmalen und eigenen Charakteren entstanden, die, obgleich im Raum ungeordnet, dennoch eine unsichtbare Einheit zu bilden scheinen. Einige wie auf einer Bühne angeordnete figürliche Plastiken erwecken den Eindruck, als folgten sie einer dramaturgischen Regieanweisung. Durch diese Frontalität haftet ihrer Haltung etwas Ernstes, Entschiedenes und Unmittelbares an, als hätten sie etwas mitzuteilen oder würden ihre jeweils eigene Geschichte erzählen wollen. Es ist jedoch nicht das Atmosphärische des historischen Atelierumfelds, das Susanne Ring zu ihren eindrücklichen Figuren und Figurenensembles anregt. Es sind vielmehr komplexe und persönliche Moment-aufnahmen von zwischenmenschlichen Begegnungen, Ereignissen, Erfahrungen und selbst Erlebtem, die sie während der Herausbildung der vorwiegend keramischen Körper einer kritischen Analyse unterzieht. Die figürlichen Plastiken dienen dabei zugleich als Reflektions-und Projektions-fläche für Erinnertes, Beobachtetes, Gefühltes und Erkanntes.


 

Das Atelier mag dabei wie ein Abbild ihrer künstlerischen Grundhaltung erscheinen. Denn so wenig sich die Arbeiten von Susanne Ring auf einen Stil festlegen lassen, so offen wirkt ihr Atelier, jener geschaffene Freiraum künstlerischer Produktion. Dass Susanne Ring eine Sammlerin ist, fällt auf, sobald man ihr Atelier betritt und Einblicke in ihr persönliches Umfeld erhält. Im Atelier bleibt der Blick spontan an vielem haften, was zunächst mit ihren Arbeiten wenig in Zusammenhang zu stehen scheint: ein Sammelsurium von Möbelstücken verschiedenster Epochen, auf denen Objekte jeglicher Art arrangiert wurden. Von der volkstümlichen Russland-Puppe über Vasen, Fotografien, Reisesouvenirs bis hin zum Stickbild ist alles dabei, was eigentlich Gefahr läuft, kitschig zu wirken. Diese Sammelleidenschaft mag Susanne Ring zunächst nicht von anderen Sammlern alltäglicher, auch kurioser Dinge unterscheiden, die unsere Konsum-und Mediengesellschaft zuweilen hervor-bringt. Doch widmet der Sammler auf der Jagd nach Kostbarkeiten gemeinhin seine Obsession den Dingen, die formal oder inhaltlich einer bestimmten Kategorie zuzuordnen sind und meist, aufgrund eines übergeordneten Systems in erkennbarer Verbindung zu ihm selbst stehen.

Bei Susanne Ring verhält es sich anders. Sie sammelt in Gestalt von realen, auch wertlosen Gegen-ständen erinnerte Bruchstücke von Welten, die ihren Sinn, für einen kurzen Augenblick und nur für die Künstlerin erlebbar, aus sich selbst heraus zu beziehen scheinen, die also gewissermaßen versiegelt sind. Ihr Sammeln ist dadurch ungebundener, anarchischer, ernsthafter und weitaus sinnlicher. Es erfordert vom Betrachter die Bereitschaft zur Intervention im Sinne einer Stellung-nahme,1 um sich auf diese persönliche Sicht der Welt einzulassen und den „Freaks of nature“ ein Stück weit näher zu rücken. Hier nun also beginnt der Diskurs.
Die Arbeiten von Susanne Ring lassen sich nicht durch den schnellen Blick erschließen. Keineswegs naheliegend ist auch deren Ausgangs-punkt. Denn die Künstlerin sprengt konsequent den konventionellen Rahmen der keramischen Möglichkeiten. Und vollzieht damit auch bewußt einen Perspektivenwechsel. Die Auseinander-setzung mit den figurativen Plastiken von Susanne Ring stellt für den Betrachter eine Herausforde-rung dar. Statt eine gefällige Präsentation von kunsthandwerklicher Zier- oder Gebrauchskeramik erwartet ihn in den Ausstellungsräumen das Gegenteil. Unerwartet sieht er sich mit einer Ansammlung von hypertrophen, zum Teil nur rudimentär ausgebildeten Körpern konfrontiert, die rätselhaft-fremd, ja subversiv erscheinen. Sie liegen definitiv außerhalb unseres Wahrnehmungs-brauchs.


 

Spontan mag man sich hierbei an die plastischen Arbeiten der Schwedin Nathalie Djurberg erinnern, die mit ihren animierten Figuren aus Knete als beste Nachwuchskünstlerin auf der Venedig-Biennale 2009 den Silbernen Löwen erhielt. Es mag vordergründig durchaus Gemeinsamkeiten geben, die die beiden ambitionierten Künstlerinnen verbindet, so etwa die Verwendung eines formbaren Materials, bei Nathalie Djurberg ist es der Knetgummi, bei Susanne Ring ist es der Ton, und die im Verhältnis zur Geschmeidigkeit des Materials ungewöhnliche Rohheit in der Wirkung der Figuren. Doch während die Schwedin mit ihren schrillen Plastilinfiguren nach der vom Trickfilm bekannten Stop-Motion-Technik2 verstörende, eindeutig lesbare Handlungen inszeniert, erzeugen die Keramiken und Figurengruppierungen von Susanne Ring eine dramaturgische Dichte, die ohne narrative Aspekte und referentielle Anekdoten auskommt. Sie verstehen sich als subtile Paraphrasen unterschiedlichster Bewußtseins-und Seelenzustände. Die visuelle Sprache ihrer figürlichen Keramiken ist dennoch direkt und unmissverständlich. Im Gegensatz zu den alptraumhaften und schonungslosen Inszenierungen einer Nathalie Djurberg, die Aggressivität als Topos im doppelten Sinne reflektieren und auf diese Weise dem Betrachter die sichere Rolle des distanzierten Voyeurs aufzwingen, überbrückt Susanne Ring diese Distanz und lässt mit ihren durchaus ungefälligen Arbeiten eine Art Zwischenraum der Intimität und Nähe entstehen. Der stillen Beredtsamkeit ihrer alterslos wirkenden Geschöpfe kann sich der Betrachter tatsächlich kaum entziehen.
Innerhalb der Ensembles, aber auch zwischen Betrachter und Figur konstituiert sich eine Art nonverbale Kommunikation, ein vorsichtiges Sich-Annähern, eingefordert auch von den wie aus einer entrückten, jenseitigen Welt stammenden befremdlich wirkenden Gestalten, die Neugier wecken und aus der Nähe betrachtet werden wollen (Königinnen 2010, Kat. S.27). Obgleich ihre keramischen Plastiken auf den ersten Blick Argwohn erwecken und auch verstören mögen, also keineswegs den standardisierten Rezeptionskategorien verhaftet sind, verführen sie doch auf formaler Ebene den Betrachter, der sich, im möglichen Vorgefühl einer geheimnisvollen Vision auf diesen Dialog mit einer bukolischen Welt surrealer Ausprägung einlässt (Venus-Flieger-Falle 2006, Kat. S.64f.). Der Ausdruck der Figuren konzentriert sich in Kopf und Körperhaltung. Dabei kommt den Physiognomien eine besondere Bedeutung zu. Auf den Gesichtern liegt häufig ein Ausdruck von morbider Exotik, wie etwa bei den Figuren des Werkzyklus „Himmel und Hölle“(2008). Mal sind die Gesichter von Zerfall und Tod gezeichnet (Freitag 2011, Kat. S. 12), mal wirken sie apotropäisch (Norweger 2010, Kat. S. 28), mal lösen sie durch starr fixierende oder ins Leere blickende Augenpaare beim Betrachter ein Gefühl von Düsterkeit, Schrecken, Trauer oder Schwermut aus. Von unbestimmter Dichte und Rätselhaftigkeit sind dagegen die in neuerer Zeit mit minimal ausgebildeten oder gänzlich fehlenden Gesichtsmerkmalen entstandenen Keramiken (Alien 2010, Kat S. 24). Einen Ausdruck von Freude oder Glück wird man bei diesen skurrilen Porträts vergeblich suchen. Denn nicht situative und individuelle Empfindungen werden hier artikuliert, sondern Seele und Charakter als universelle Grundelemente des menschlichen Seins.


 

Des Öfteren erinnern die Figuren von Susanne Ring an prähistorische Kleinplastiken, folkloristische Objekte (Königinnen 2010, Kat. S. 26) oder mythische Skulpturen sogenannter „primitiver“ Kulturen, denen wie den Figurenplastiken von Susanne Ring gleichfalls personalisierende Merkmale fehlen. Ein gemeinsames Stilmerkmal ist die Verfremdung. Bei den figürlichen Darstellungen der Südsee beispielsweise, die als Ahnenfiguren im Kontext magischer Praktiken und Rituale stehen, handelt es sich nicht um Abbildungen realer Menschen, sondern um Geistwesen mit besonderen Kräften. Sie stellen, mit bedeutungsassoziierenden Gesichtsbemalungen, Schmuckdetails und verschiedenen Materialkombinationen gestaltet, ein symbolisches Bindeglied zu einer jenseitigen Welt dar, die in engem Bezug zur mythischen Geschichte der eigenen Kultur stehen. An die in Neuguinea für die Körperbemalung verwendete, Jenseitiges symbolisierende Farbe Schwarz, sowie filigrane Gesichtsrahmen, die den Kopfumriß ihrer Träger vergrößern sollen, und die Funktion einer aggressiven, Imponiergehabe und Kampfbereitschaft signalisierenden Drohgebärde haben, mag man vereinzelt bei den Arbeiten „Das letzte Hemd hat keine Taschen“ (2005) und „Venus-Flieger-Falle“ (2007, Kat. S. 69) erinnert werden.
Hypertrophe, befremdlich wirkende Rümpfe und übermäßig große Kopfformen lassen denn auch die in jüngster Zeit entstandenen Figuren abweisend und bedrohlich erscheinen (Verholzen 2009/2010, Kat. S 38).

Tatsächlich hat die Künstlerin bei diesen Arbeiten autobiografische Erlebnisse, Berührungen mit von Autoritäten dominierten sozialen Strukturen verarbeitet. Immer wieder bevölkern auch heimische oder exotische Tiere, Pferde, Schweine, Affen oder Rotwild diese Figuren-Ensembles. Leicht ironisch, gepaart mit pointiertem Ernst führt Susanne Ring vor Augen, dass soziale Strukturen die universelle Existenz determinieren, und die daraus entstehenden Befindlichkeiten und Emotionen nicht allein auf den Menschen beschränkt bleiben. Susanne Ring stellt mit ihren Arbeiten festgelegte Denkmuster in Frage und durchbricht konsequent die a priori fixierten Erwartungskriterien an die Keramik. Ihr unbedingter Wille zur semantischen Freiheit stellt Ritualisierungen im allgemeinen auf den Prüfstand. Nicht nur in der Kombination unterschiedlicher Materialien, auch in der ungeschmeidigen Oberflächenstrukturierung und einer größtenteils inhomogenen Farbfassung kommt diese Haltung zum Ausdruck (Smutnas 2007, Kat. S. 59). Hier zeigt sich ihr kritischer Standpunkt gegenüber Rezeptionsverhalten und erstarrten Strukturen im allgemeinen.
Beziehungen und Paare sind das Leitthema der Arbeiten von Susanne Ring.

 

Beziehungen und das Gespräch darüber sind ihr wichtig, sagt sie. Seit 2010 steht das Paar als kleinste Beziehungseinheit im Mittelpunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzung (Indianer 2010, S. 21). Die unter diesem Aspekt entstandenen Figurengruppen sind, wie überhaupt alle Arbeiten von Susanne Ring, nicht auf Stereotypen festlegbar. Die Wahrnehmung von Beziehungen und ihren mannigfaltigen Spielformen und Dynamiken ist dabei selbst höchst subjektiv. Deren Umsetzung in die feste keramische Form fördert folglich auch unterschiedlichste Beziehungsaspekte zutage, die, so Susanne Ring, mal als romantisch verklärend, mal als verstörend oder auch als gestört lesbar sind. Dass einige figurale Plastiken im Vergleich zu älteren Arbeiten von größerer Dimension und damit regelrecht in den Raum gewachsen sind, kann zum einen als Hinweis auf ein künstlerisches Bedürfnis nach fortwährend neuen Ausdrucksformen gedeutet werden. Zum andern drückt sich hier ein besonderes Interesse und Gespür für stets wiederkehrende existenzielle Fragen um Emotionen wie Liebe und Haß, Leben und Tod aus. Formal spiegeln die aus unglasierten Tonwülsten spiralförmig gebildeten Körper (Kroko 2011, Kat. S. 23) diese Idee der Fortsetzung wider. Die in Größe und Form variierenden, am Kopfende offenen Hohlkörper spielen auf mythologische Bezüge an. Das Gefäß als Bewahrer kraftspendenden oder bedrohlichen Inhalts hatte in den Mythologien vieler Völker eine wichtige Funktion.3 Susanne Ring überträgt diese Konnotation auf ihre figuralen Hohlkörper, die aufgrund ihres Fassungsvermögens ebenfalls zu „Bewahrern“ werden.


Seit 2010 beschäftigt sich Susanne Ring verstärkt auch mit der Materialität des Filzes. Dabei kombi-niert sie ihre nach bekannten Vorbildern aus der Kunstgeschichte gefilzten Bilder mit Keramiken (Kratzen und Kraulen 2011, Kat. S. 31f.). Wie in allen ihren Arbeiten seit den 1990er Jahren verarbeitet Susanne Ring auch hier Autobiografisches. So fließen Kindheitserinnerungen spielerisch in die Ensembles aus Filzbild und Keramikfiguren ein. Die blauen Keramikgefäße symbolisieren Mann und Frau und umkreisen ihrerseits das Paarthema (Kratzen und Kraulen, Kat. S. 32). Dem Filzvorgang kommt dabei eine sinnbildliche und zugleich vermittelnde Rolle zu. Wolle ist ein seit Jahrtausenden verwendeter Werkstoff und damit kollektiv legitimiert. Dem Zusammenfügen der traditionellen Wollfasern entspricht im Sinne der Künstlerin eine Verortung in gesellschaftlichen Zusammen-hängen. Susanne Ring macht sich diese symbolische Verankerung zunutzen, um, stets auch rekurrierend auf selbst Erlebtes, dem Betrachter den assoziativen Zugang zu den Ensembles zu ermöglichen. Eine vergleichbare Verortung in sozialen Gefügen geschieht durch den Einsatz von trivialen Alltagsgegenständen wie Spitzendeckchen, Mobiliar oder anderen Raumaccessoires (Smutnas 2007, Kat. S. 58, Verholzen 2009/2010, Kat. S. 36). Die Verwendung von wiedererkennbar Alltäglichem schafft eine Assoziationsfläche für den Betrachter und eröffnet durch diesen Zugang den Dialog zwischen ihm und dem Figurenensemble im Raum. Die Schnittstelle bilden Figur und Materialität gleichermaßen. Susanne Ring geht noch einen Schritt weiter, wenn sie Malerei mit Keramik paart. Dabei durchbricht sie die Zweidimensionalität des Bildes, indem sie die Figuren aus der Fläche in den Raum treten lässt. Dort wird der Betrachter selbst zum Dialogpartner innerhalb des Ensembles (Indianer 2010, Kat. S. 21). Die keramischen, teilweise auch montierten Figuren wirken mal freakig, verrückt und surreal, mal wie von Kinderhand geformt, ungelenk und hilflos, mal erscheinen sie wie von inneren und äußeren Blessuren gezeichnete Geschöpfe, oft faszinieren sie durch eine Mischung aus allem. Die spontan aus der archaischen Tonerde entstanden Figuralplastiken von Susanne Ring zeigen deutliche Bearbeitungsspuren und somit ein hohes Maß an Authentizität (Verholzen 2009/2010, Kat. S. 38). 
Zurecht wurde das Ensemble „Ich habe Frau Hitt gesehen/Frau Hitt in Gondal“ (1998) in der Nähe zur Art brut gesehen.4 Das facettenreiche Wechselspiel von glasierter und unglasierter Oberfläche der einzelnen Figuren und die aus der Materialkombination resultierende Modulation der Haptik ist gleichsam als Spiegelung der menschlichen Existenz, als Reflektion von Gedankenwelten und Seelenräumen interpretierbar. Die spröden, zum Teil harten Materialbrüche der Oberfläche und die handwerklichen Spuren in der tönernen Ursubstanz verstehen sich als Äquivalent zum Menschen, seinen Beziehungen und einer komplexen, von innerer Zerrüttung, Resignation, aber auch deren Überwindung geprägten Identität. Ebenso greifen die bereits erwähnten Ensembles, die Susanne Ring als Körper versteht, diese Idee auf. Ihnen kommt eine elementare Bedeutung zu, denn die Ensembles sind einem permanenten Wandel unterworfen und stehen paradigmatisch für das Transitorische und Temporäre im menschlichen Beziehungsgeflecht und auch im Gesamtwerk.


 

Durch flexible und intuitive Figurenneuordnungen verarbeitet Susanne Ring stets aufs Neue alltägliche Begegnungen und Erlebnisse, denen sie dadurch, übergangsweise, räumliche Präsenz verleiht. In ihren alternierenden Gruppierungen und Installationen treten uns die Figurengefüge gleichsam dreidimensional als Projektionen zwischenmenschlicher Dialogformen und psychodynamischer Prozesse entgegen. Einige Ensembles wie „Himmel und Hölle“ (2008, Kat. S. 50) sind begehbar, so dass der Betrachter selbst Teil des Dialogs innerhalb dieser Beziehungs-konstellationen wird. Die Grenzen sind dabei fließend. Trotz ihres mitunter geringen Körpermaßes haben die gestisch-expressiven Figuren von Susanne Ring einen großen Wirkungsradius. „Freaks of nature“ offenbart sich als ein visueller Kosmos fantastischer, realer, grotesker wie rätselhaft-verfremdeter Körperwesen, die den Betrachter unmittelbar konfrontieren mit einer schöpferischen Lust, die menschliche Natur und ihre Auswüchse auf einer neuen Ebene sichtbar zu machen. Die Offenlegung dieser Dynamiken mag schockierend und faszinierend zugleich sein. Doch sind die „Freaks of nature“ weder als Kritik an menschlichen Verhaltensweisen noch als Palliativ zu verstehen. Die Besonderheit der „Freaks of nature“ liegt vielmehr im Appell an ein Bewußtsein, der universalen Existenz mit einer geschärften Sensibilität zu begegnen.

 

Jacqueline Maltzahn-Redling

 

• 1 
Hans Belting, Warum immer noch Kunst? Erinnerungen an Sisyphos, in: Lesebuch Badischer Kunstverein 1999-2001, Hg. Angelika Stepken, Karlsruhe 2001, S. 6


• 2
 Bei der beim Trickfilm verwendeten Stop-Motion-Technik wird jede Bewegung mit unbeweglichen Objekten fotografiert und anschließend animiert.


• 3
 Barbara Rappenglück, Mutterbauch und Kosmos – zur Symbolik des Gefäßes, in: Welt der Gefäße, Von der Antike bis Picasso, Oberhausen, 2004/2005, S. 203ff.


• 4
 Wolfgang Knapp, Starre Augen, montierte Körper. Das Ensemble „Ich habe Frau Hitt gesehen/ Frau Hitt in Gondal, Keramische Plastiken von Susanne Ring, in: Susanne Ring, Ensembles, Karlsruhe 1998, S. 18

Aus Smutnas, 2007

 

Aus Himmel und Hölle, 2008

Im Atelier

Königin, 2010

Aus Venusfliegerfalle, 2006

 

Freitag, 2011

Aliens, 2010 (im Vordergrund Kroko)

Aus Kratzen und Kraulen 2011

 

Indianer, 2010

 

Verholzen, 2009/2010

 

„Himmel und Hölle“, 2008